Handbuch 5. Auflage

1256  Psychiatrie und Jugendhilfe Von Reinmar du Bois und Henning Ide-Schwarz Einführung und Übersicht Mit steigender Tendenz stellen sich Notlagen bei Kindern und Jugendlichen so dar, dass sie nur im Zusammenwirken von Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie angemessen versorgt werden können. Frequenz und Intensität der Kooperatio- nen haben sich in den 1990er Jahren nach einer Studie in Rheinland-Pfalz von 15 auf 30% aller Jugendhilfefälle annähernd verdoppelt (Kalter 2004a). Die Zusammenarbeit ereignet sich syn- chron oder sukzessiv, auf demWege der gegenseiti- gen Zuweisung oder im unmittelbaren gemeinsa- men Handeln, in Beratungsprozessen, ad hoc in Fallkonferenzen oder in turnusmäßigen Kooperati- ons- und Konsultationsgesprächen. Bei sozial und psychisch komplex auffälligen Jugendlichen muss sich die Kooperation auch in Form eines Krisen- managements bewähren (Berliner Senatsverwal- tung für Gesundheit, Soziales und Verbraucher- schutz, Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport 2003; Fritsch 2006; Kalter 2004b). Die Mo- dalitäten und Verfahrenswege der Kooperation sind in zahlreichen Arbeitspapieren und Manualen regional und auf Länderebene formuliert worden (Darius et al. 2001; Berliner Senatsverwaltung für Gesundheit, Soziales und Verbraucherschutz, Se- natsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport 2003; Jugend- und Gesundheitsministerkonferenz 1992; Hessisches Ministerium für Arbeit, Familie und Gesundheit 2002). Die historischen Voraussetzungen und grundlegen- den Merkmale und Risiken der Kooperation (Lempp 2006; Jungmann 2004) sind bereits zwi- schen 1980 und 1995 gut beschrieben worden und haben ihre Aktualität bewahrt. Dies gilt auch für den Umstand, dass in beiden Systemen durch die Multiprofessionalität umfassender Sachverstand über das jeweils andere System verankert ist, so dass zum einen pädagogische, zum anderen therapeuti- sche Denkmuster und Kompetenzen übernommen und dem jeweils anderen Partner spiegelbildlich entgegen gehalten werden können (du Bois / Ide- Schwarz 2005). Ob eine stärkere Abgrenzung der Systeme gegeneinander für die Kooperation und für die Einhaltung verbindlicher Absprachen besser geeignet wäre oder ob auch die Vermischung der Kompetenzen und die Einmischung in die Kom- petenz des anderen produktiv zu werten sind, wird kontrovers diskutiert (Averbeck /Hermans 2008; Tornow 2006). Neu ist, dass sich das Arbeitsbündnis von Jugend- hilfe und Psychiatrie nun auch im Rahmen der Prävention und Früherkennung bei Kindern hoch belasteter Familien bewähren soll, die noch keine psychischen Auffälligkeiten aufweisen. Die kinder- psychiatrische Forschung, weniger die Praxis, hat dieses Gebiet für sich entdeckt (Fegert / Ziegenhain et al. 2008; Klitzing 2009). Die Jugendhilfe hat aufgrund der verschärften Anforderungen des Kin- derschutzes (§8a SGB VIII) ein hohes Eigeninte- resse, ein solches Bündnis mit der Psychiatrie ein- zugehen. Neu ist weiterhin der verstärkte Ausbau klinischer Einrichtungen zur Suchtbehandlung von Jugendlichen, wobei das Verhältnis zu vergleich- baren bereits etablierten Einrichtungen der Jugend- hilfe neu zu bestimmen ist (Fegert / Schepker 2009). Viele Beispiele konstruktiver Zusammen- arbeit dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass zwischen den Systemen stets ein Kompetenzgefälle (Tornow 2006) droht, weil der überwiegende Teil der Expertise auf Seiten der Psychiatrie liegt, der überwiegende Teil der ausgeübten Praxis und der Finanzierung jedoch bei der Jugendhilfe. Die Psy- chiatrie muss ihre eigene zwar exklusive, ansonsten aber schwache und anfechtbare Position selbstkri- tisch durchschauen und den Dialog mit der Ju- gendhilfe unbedingt auf Augenhöhe führen. Im Otto/Thiersch (Hg.), Handbuch Soziale Arbeit, 5.A., DOI 10.2378/ot4a.art116, © 2011, 2015 by Ernst Reinhardt, GmbH&Co KG, Verlag, München

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